Von 24. bis 25.09.2016 fand die Interimstagung der AG Ethnologische Bildung in Tübingen statt, die unter dem Motto „TheorieFeldPraxis“ gemeinsam mit der Abteilung Ethnologie des Asien-Orient-Instituts / Schwerpunkt Angewandte Ethnologie an der Universität Tübingen abgehalten wurde. Ziel der Tagung war ein Austausch zwischen Theorie und Praxisfeldern der ethnologischen Bildung, um unterschiedliche Perspektiven aus (angewandter) Ethnologie und Pädagogik vorzustellen und zu diskutieren.
Nach Grußworten der Organisatorinnen – Dr. Veronika Ederer, Dr. Anita Galuschek und Verena Schneeweiß, M.A., Sprecherinnen der AG Ethnologie Bildung, sowie Dr. Sabine Klocke-Daffa, Privatdozentin an der Universität Tübingen – folgten an den zwei Tagungstagen vielfältige Beiträge über theoretische Fundierungen für die Praxis, Impulse und Projektberichte.
Der erste Themenblock beschäftigte sich mit unterschiedlichen Aspekten der Flüchtlingsarbeit. So sprachen Dr. Nora Braun und Andreas Dürr, M.A. über „Ethnologische Beratung im Kontext von jugendlichen Flüchtlinge“, also ethnologische Fallberatung in Institutionen, die geflüchteten Jugendlichen und ihren Betreuungskräften gleichermaßen zugutekommt. Durch teilnehmende Beobachtung und Interviews wurden Handlungsfelder identifiziert, sodass ethnologisches Wissen und Perspektivenwechsel zum Einsatz kommen konnten, um „Kulturkrisen“ verständlich zu machen, Sichtweisen und Grundannahmen zu hinterfragen und auch Gemeinschaftsprojekte zu planen.
Ein Referentinnen-Team aus Münster – Nathalie Gies-Powroznik, M.A., Annika Strauss, M.A., Fatima El-Gazri, B.A., Constantina Rokos, B.A. und Alina Zurmühlen, B.A. – lieferten einen Projektbericht zum Thema „Doing Engaged Anthropology – Erfahrungen im Kontext eines Studierendenprojekts in einer Münsteraner Flüchtlingsunterkunft“. Dabei betonten sie den Charakter der Flüchtlingsunterkunft als Transitort und berichteten über ihre Aktivitäten im Rahmen eines studentischen Projekts. Deutlich wurden dabei die Reflexion über den eigenen Fußabdruck im Feld und der Balanceakt von Grenzsetzung und Abgrenzung.
Verena Schneeweiß, M.A. gab Einblicke in „Bildungsarbeit zum Thema Flucht und Asyl“, indem sie verschiedene Projektansätze und methodische Herangehensweisen vorstellte, sowohl zur thematischen Wissensvermittlung und Sensibilisierung, aber auch in Begegnungsformaten oder mit Geflüchteten als Zielgruppe, wie z.B. diversitätsbewusste Bildung.
Ein weiterer Themenblock beschäftigte sich im weitesten Sinne mit Interkulturellen Trainings. Dr. Anita Galuschek betonte in ihrem Vortrag „Relationalität und Lebenswelten“ den situationsbedingten und narrativen Charakter von Identität – so können bspw. ausgehend vom Konzept eines dezentralisierten und relationalen Selbstseins systemische Problemlösungsansätze ersichtlich werden.
Michael Bortolamedi, M.A. und Jane Neugebauer berichteten „Aus dem Alltag der Waiguoren“ und stellten mit ihrem „interkulturellen Trainingskonzept zum Erforschen neuer Lebenswelten“ eine Methode des erfahrungsbasierten Lernens vor, die durch Interaktion und Dialog zu einem besseren (wenn auch immer noch unvollständigen) Verständnis der jeweiligen Kultur vor Ort beitragen will, z.B. bei längeren Auslandsaufenthalten.
Zudem widmeten sich zwei Panels der Arbeit in bzw. mit öffentlichen Institutionen – also einerseits klassischen Bildungsinstitutionen, aber auch anderen öffentlichen Akteur*innen, wie Dr. Frank Müller in seinem Beitrag „Ethnologische Perspektiven auf das Feld der Polizei“ darstellte. Dabei ging er auf Aspekte der Polizeikultur ein und verwies auf die Vorteile ethnologischer Forschungen (bspw. Begleitung im Dienst als teilnehmende Beobachtung) und Fortbildungen in diesem Bereich, um Bewusstsein für Kulturen zu fördern.
Schwerpunktmäßig um schulische Bildungswege in ihrer Vielfalt ging es in den Vorträgen zu Kindertagesstätten, Schulbüchern und Begabtenförderung. Christian Johannsmann, M.A. erörterte in seinem Vortrag „Feldforschend in der KiTa“ die Ähnlichkeiten zwischen Feldforschung und Reggio-Pädagogik sowie den Ansatz, Kinder als Forschende zu begreifen; mit einem anschließenden Diskussionsforum (World Café) wurden weitere Fragen vertieft.
„Repräsentationen von (Nicht-) Behinderung in Schulbüchern“ war das Thema von Dr. Stefan Müller-Mathis, der die Wissensvermittlung in Schulbüchern als mediale Praxis des Einschlusses und Ausschlusses untersucht. Breitere Perspektiven und verschiedene Stimmen müssten bereits in der Lehrkräftebildung aufgegriffen werden, um die vermittelten Bilder vielfältiger zu gestalten.
Dr. Veronika Ederer berichtete über „Die Chance der Ethnologie in der Begabtenförderung“ und band dabei verschiedene Modelle für diesen Kontext ein, wie die Bloom’sche Taxonomie oder divergentes Denken. Im Vortrag wurde deutlich, wie anhand von kulturellen bzw. ethnologischen Themen Perspektivenwechsel und Forschung im Klassenzimmer vollzogen werden können.
Den Abschluss bot ein Panel zu Angewandtheit & Öffentlichkeit. Tomislav Maric, PGCE & BSc Anthropology, fragte in seinem Vortrag „Anthropology Education and Public Engagement: Where Do We Go From Here?“ nach dem Vermächtnis der A-Level-Kurse Anthropology in Großbritannien, die von 2010 bis 2018 angeboten werden: Neben einem Perspektivenwechsel, der das Fremde vertraut und das Vertraute fremd erscheinen lässt, können Vorurteile abgebaut und das Bewusstsein für das aktuelle Weltgeschehen erhöht werden.
PD Dr. Sabine Klocke-Daffa sprach über „Angewandte Ethnologie – gefragt wie nie. Herausforderungen für die Zukunft“ – angesichts der Pluralität von Lebensentwürfen, verdeutlicht durch den Flüchtlingszuzug, bestehe gesellschaftlicher Handlungsbedarf, beispielsweise auch hinsichtlich der interkulturellen Öffnung von Institutionen. Dabei gelte es, Theorie und Praxis der Ethnologie zu überbrücken sowie (ethnologische) Positionierung zur gesellschaftlichen Partizipation zu nutzen. Hierbei stehen (angewandte) Ethnolog*innen immer wieder vor der Herausforderung, komplexe Themen herunterbrechen zu müssen.
Die Interimstagung umfasste somit ein vielfältiges Spektrum ethnologischer Bildungsarbeit in Theorie und Praxis und gab Einblicke in verschiedenste Forschungsbereiche und Arbeitsfelder. Als kleines Fazit der Tagung lässt sich festhalten: Ethnologie kann den gesellschaftlichen und historischen Wandel von Konzepten verdeutlichen, Perspektivenerweiterung ermöglichen, Gelingensfaktoren für interkulturelle Begegnungen aufzeigen, konstruktive Konfliktbewältigung anstoßen und die Bedeutung von Integration neu beleuchten. Ethnologische Ansätze können – durch Denkanstöße und punktuelle Blickerweiterungen – gesellschaftliche Entwicklungen mit akademisch fundierten Erkenntnissen und Handlungsempfehlungen bereichern.
Neben dem wissenschaftlich-praktischen Austausch wurden auch Netzwerke gestärkt und gemeinsame Ideen und Projekte entworfen. Die großzügige Ausstattung und die tatkräftige Durchführung der Tagung wurde ermöglicht durch das Engagement und die finanzielle Unterstützung der Abteilung Ethnologie des Asien-Orient-Instituts / Schwerpunkt Angewandte Ethnologie an der Universität Tübingen sowie einen Zuschuss der DGV, sodass die Tagung kostenfrei zugänglich war für alle Interessierten. Somit war die Tagung mit elf Vorträgen an zwei Tagen und über 30 Teilnehmenden in der schönen Kulisse des Tübinger Schlosses ein voller Erfolg – vielen Dank an alle Beteiligten!
Auf dem Blog von Julia Herz-el Hanbli findet sich auch ein Beitrag über die Interimstagung 2016 in Tübingen, mit einigen Notizen und Impulsen einzelner Vorträge:
http://ethnosphaere.de/auf-der-tagung-der-ag-ethnologische-bildung/